Kein Platz für Verfolgten-Organisationen in der Erinnerungs- und Gedenkkultur in Rheinland-Pfalz

Mit großer Sorge betrachtet QueerNet RLP seit einigen Jahren die Entwicklung der Gedenk- und Erinnerungskultur in Rheinland-Pfalz.

In allen offiziellen Gedenkorten und Vereinen, die sich der Gedenk- und Erinnerungskultur widmen, sind Vertretungen von Verfolgtengruppen strukturell ausgeschlossen.

Wir erleben die Wiederholung der Situation der 1980er Jahre, als die Stimmen der nicht-jüdischen Verfolgten verschwiegen wurden, nicht sichtbar waren und erst durch Organisationen der Sinti und Roma oder queere Organisationen in öffentlichkeitswirksamen Aktionen Aufmerksamkeit erlangten.

Auch jüdischen Organisationen gelang es erst durch Widerspruch zu ritualisiertem „Gedenken“, den vorhandenen Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen.

Verfolgten-Organisationen sind existenziell darauf angewiesen, dass sie gleichwertiger und gelichberechtigter Teil der Erinnerungs- und Gedenkkultur des Landes sind. Ihre strukturelle Beteiligung ist – neben der Dokumentation dessen, was geschehen ist – für die Verfolgten immer auch die Versicherung, dass es „nicht mehr geschieht“, dass es ein Bewusstsein bei denen, die sich dafür einsetzen, gibt, wie schmerzhaft Ausgrenzung ist, ja wie tödlich sie sein kann. Diese Erinnerungs- und Gedenkkultur wird auch als Teil der Wiedergutmachung des geschehenen Unrechts von den Verfolgten gesehen.

Dieses Bewusstsein gibt es weder in der offiziellen Gedenkstätte der Landeshauptstadt Mainz, dem „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz“, in dessen Entscheidungsgremium „Opfergruppen“ (Plural) „vertreten sein sollen“, was sie (bis auf die jüdische Gemeinde) seit fünf Jahren nicht sind. Regelmäßig werden Anträge, diesen mangelhaften Zustand zu beenden, zurückgewiesen (zuletzt am 18.07.2023).

Auch der (neu als e.V.) gegründete Verein „Erinnern & Gedenken in Rheinland-Pfalz“ schließt Verfolgtengruppen mit der klaren Mehrheit seiner Mitglieder aus (Beschluss der MV am 25.11.2023). Der Verein erhebt für sich den Anspruch, für die Erinnerungs- und Gedenkkultur in RLP zu sprechen und erwartet dafür staatliche Förderung.

Die Landeszentrale für politische Bildung RLP, die Träger der KZ-Gedenkstätten in Hinzert und Osthofen ist, beschließt 2022, den „Fachbeirat zur Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz“ ausschließlich mit Fachwissenschaftler*innen zu besetzen, so dass nun auch hier die Expertise der Vertretungen von Verfolgten-Organisationen in der Gedenkarbeit nicht mehr vertreten ist.

Dabei ist die Expertise der Verfolgten-Organisationen durch nichts zu ersetzen. Keine noch so gut gemeinte und in jeder Hinsicht anerkannte Initiative für Gedenkorte, keine noch so gute wissenschaftliche, häufig aus Aktenstudium gewonnene Erkenntnis kann die Erfahrung einbringen, die Verfolgten-Organisationen haben in Bezug auf Kontinuität und Wandel von Ausgrenzung und Akzeptanz. Diese Expertise einzubeziehen ist längst anerkannte Notwendigkeit der historischen Wissenschaft. Es muss in der Gedenkarbeit darum gehen, alle genannten Perspektiven in ihrer jeweiligen Qualität zu berücksichtigen.

Wir beobachten, dass das aktuelle Narrativ „die Zeitzeug*innen sterben“ als „Brückenargumentation“ dient, sich der Perspektive der Verfolgten-Organisationen zu entledigen, indem von einer „neuen Erinnerungskultur“, die es zu entwickeln gelte, gesprochen wird. In dieser „neuen“ Erinnerungs- und Gedenkkultur ist für die Verfolgten-Organisationen kein Platz, wie die Positionierungen verschiedener Entscheidungsträger*innen der Erinnerungs- und Gedenkkultur in Rheinland- Pfalz zeigen.

Das Narrativ „die Zeitzeug*innen sterben“ unterschlägt die Fortsetzung der Verfolgung in der Bundesrepublik (auch in der DDR) im Falle der homosexuellen Männer unter dem § 175 StGB in der von der NS-Diktatur verschärften Fassung von 1935. Hierzu gibt es Zeitzeugenschaft, wie auch aus dem gesamten Spektrum der verfolgten Lesben, Transidenten und weiterer. Das gilt auch für Sinti und Roma und für Jüd*innen sowieso.

Im Grunde genommen wiederholt sich hier die „Lüge der Stunde Null“, deren Sinn es war, gerade die vielfältigen Kontinuitäten der NS-Diktatur zu verdecken und die Verfolgten zum Schweigen zu bringen.

Es kann keine Gedenk- und Erinnerungskultur ohne die strukturelle Beteiligung der Verfolgten-Organisationen geben. Nur der intensive Dialog zwischen der Forschung in den Archiven, der Dokumentation der Verbrechen in der Zeit der NS-Diktatur und der Nachkriegszeit, den Interessierten, die sich mit großem (in der Regel ehrenamtlichen) Engagement vor Ort für die Sichtbarkeit (zumeist) jüdischer Einrichtungen einsetzen und den Vertreter*innen der Verfolgten-Organisationen ist Garant für eine Gedenk- und Erinnerungskultur, die sich ernsthaft den Lehren aus Verfolgung und Ermordung verschreibt, weil sie die verschiedenen Perspektiven „auf Augenhöhe“ zusammenbringt.

Vertreter*innen von Verfolgten-Organisationen sind keine „Petersilie“ auf dem Menu der Erinnerungs- und Gedenkkultur, häufig von der Mehrheitsgesellschaft dazu auserkoren „Betroffenheitsstimmung“ zu verbreiten.

Verfolgten-Organisationen sprechen für sich selbst, ihre Expertise ist lebensnotwendig für eine demokratische Gesellschaft, wenn sich andere im Wind aktueller „Grenzverschiebung des Sagbaren“ längst aus dem Staub gemacht haben.

QueerNet RLP e.V. setzt sich in Rheinland-Pfalz zusammen mit anderen Verfolgten-Organisationen dafür ein, dass ihre Stimme Gehör findet. Es braucht Platz für diese Stimmen in der Gedenk- und Erinnerungskultur des Landes. Der Schritt, nun in die Öffentlichkeit zu gehen und auch aus der Landesarbeitsgemeinschaft „Gedenken und Erinnern“ als Verein auszutreten, ist dem geschuldet, dass etliche Gespräche, die wir bereits geführt haben und zu denen wir auch in Zukunft bereit sind, bislang ins Leere liefen. Wir wünschen uns einen Dialog auf Augenhöhe, bei dem der Bedarf einer gleichberechtigten Beteiligung von Verfolgten-Organisationen in den Strukturen der Erinnerungskultur erkannt und gemeinsam umgesetzt wird.

 

Mainz, den 18.12.2023

Diana Gläßer (Sprecherin QueerNet RLP e.V.)

Joachim Schulte (Sprecher QueerNet RLP e.V.)

 

Foto: Art. 1, Satz 1, des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland am Landgericht in Frankfurt am Main, CC BY-SA 3.0

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