Am 13.02.2019 hatte der Stadtrat der Landeshauptstadt Mainz einstimmig beschlossen, eine Stele zum Gedenken an die Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität während der NS-Dikatur und in der Nachkriegszeit zu errichten. Am 21.07.2021 wurde sie, unterstützt vom Land Rheinland-Pfalz, QueerNet Rheinland-Pfalz und vielen anderen queeren Initiativen, feierlich enthüllt am Ernst-Ludwig-Platz in Mainz. Es sprachen der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling, Intergrationsministerin Katharina Binz, Landtagspräsident Hendrik Hering und QueerNet-Sprecher Joachim Schulte.
Pressemitteilung der Landeshauptstadt Mainz
Pressemitteilung des Landtages Rheinland-Pfalz
Rede des QueerNet-Sprechers Joachim Schulte:
Wir erinnern uns heute an die schwulen Männer und lesbischen Frauen, an transidente und intergeschlechtliche Personen, die in der NS-Diktatur und der Bundesrepublik auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz verfolgt wurden, ermordet wurden.
Erinnern heißt Fakten nennen: Wie die strafrechtliche Verfolgung nach Paragraphen wie dem § 175, dem § 183 (Erregung öffentlichen Ärgernisses) und dem § 360 (sogenannter Grober Unfug). Fakten wie die gesellschaftliche Ausgrenzung, den Hass und die Verfolgung. Der Paragraph § 175 traf schwule Männer und auch trans* Personen; die §§ 183 und 360 trafen trans* Personen und lesbische Frauen. Diese knebelte ebenso das Familienrecht, insbesondere das Scheidungsrecht, mit dem Sorgerechtsentzug ihrer Kinder (noch 1981 in Mainz).
Darum stehen wir hier am Gebäude des Amts- und Landgerichts, um an diese Verfolgung zu erinnern, die im Falle des § 175 1935 in der Diktatur verschärft und in dieser verschärften Fassung in das Strafrecht der BRD übernommen und vom Bundesverfassungsgericht 1957 für „rechtens“ befunden wurde.
Wir stehen hier, weil diese Stele beides dokumentiert: die Verfolgung und den Erfolg des Kampfes darum, dass diese endlich nicht mehr verschwiegen wird. Sichtbar in der Stadtgesellschaft von Mainz und des Landes Rheinland-Pfalz, zeigt dies den Erfolg zivilgesellschaftlichen Engagements.
Sichtbarkeit! Sie ist der Dreh- und Angelpunkt sowohl der Selbstfindung wie auch der Möglichkeit als schwule Männer, lesbische Frauen, als Bisexuelle, als trans- und intergeschlechtliche Personen am gesellschaftlichen Leben dieses Landes teilzuhaben und Wachheit für Gleichwertigkeit und gleiche Rechte immer wieder in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.
Diese Sichtbarkeit ist kein Geschenk, sie ist erkämpft. Sie kann auch wieder zurückgedreht werden, wie die Beispiele Ungarn und Polen zeigen – Länder der EU mit der gleichen Grundrechtecharta wie die Bundesrepublik. Oder wie in 69 Ländern, in denen gleichgeschlechtliche Liebe oder eine selbstbestimmte Wahl der Geschlechtsidentität bestraft werden – in einigen Ländern mit dem Tod.
Dass die Firnis der Zivilisation dünn ist, ist eine der Lehren aus der Zerstörung der ersten Demokratie in Deutschland 1933 – wenn sie nicht verteidigt wird, ausgebaut durch den Rechtsstaat und wachgehalten durch die Zivilgesellschaft. Ausgebaut z.B. durch ein Demokratiegesetz im Land und im Bund, das Diskriminierung ahndet – und wachgehalten durch starke NGOs.
Wir erinnern uns daran, dass, die rechtliche Verfolgung sich im polizeilichen Handeln äußerte, in Razzien an öffentlichen Treffpunkten oder Lokalen. In Verhören, bei denen gedroht und auch geschlagen wurde, um Informationen zu bekommen. Wie 1951 in Frankfurt, wo eine Verhaftung weitere nach sich zog mit zerstörten Existenzen, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust der Wohnung, Gefängnisstrafen oder Selbstmorden.
Wir erinnern uns an die gesellschaftliche Verfolgung, die sich in einem von den beiden christlichen Kirchen propagierten Familienbild äußerte, das sehr anschlussfähig war an das während der Diktatur propagierte. Klare Rollen-Zuweisungen von Männern und Frauen, Binarität der Geschlechter, die Ehe als einziges Modell der Lebensgemeinschaft mit vielen Kindern. Familienbilder, die im Übrigen in allen monotheistischen Religionen propagiert werden.
Grundlage ist das sogenannte „Sittengesetz“, das, wie das Bundesverfassungsgericht es 1957 definierte, von den beiden christlichen Kirchen bestimmt wird. Bis heute ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit in der rheinland-pfälzischen Verfassung in Artikel 1 an dieses „Sittengesetz“ gebunden. Es ist endlich Zeit, sich davon zu verabschieden!
Eingeklemmt in der Zange zwischen rechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung wurden in Rheinland-Pfalz in der Nachkriegszeit ca. 6000 Menschen verfolgt und 2880 mit Strafen belegt (davon 630 Jugendliche, d.h. unter 21 jährige).
Erinnern heißt Namen kennen, Namen nennen.
Das können wir nur sehr vereinzelt, weil viele Prozess-Akten nicht für „aufbewahrenswürdig“ erachtet und vernichtet wurden oder auftauchen in Ecken, wo sie nicht vermutet wurden. Ein riesiges Konvolut ist der Forschung noch nicht zugänglich: die Wiedergutmachungsakten, die beim Finanzministerium Rheinland-Pfalz unter Verschluss sind und der wissenschaftlichen Aufarbeitung harren.
Erinnern heißt Täter kennen, Täter nennen.
Der Text der Stele nennt Polizei und Justiz – nie sind Richter*innen für ihre grausamen, existenzvernichtenden Urteile belangt worden, wie das endlich vereinzelt mit den Täter*innen in den Konzentrationslagern geschieht.
2012 hat der Landtag die Erforschung der Verfolgung von Schwulen und Lesben beschlossen, und viel kam ans Licht der Öffentlichkeit durch die Arbeiten von Dr. Kirsten Plötz, Günter Grau, aber auch Dr. Christian Könne. Es gab eine Anerkennung der Verfolgung – es fehlt die Wiedergutmachung, u.a. durch weitere regionalgeschichtliche Forschung, die Lesben, Schwule, trans- und intergeschlechtliche Personen einbezieht.
Diese Wiedergutmachung könnte z.B. in einer Forschungsstelle an einer rheinland-pfälzischen Universität bestehen. Denn das Allermeiste, was wir über die queere Geschichte in der Bundesrepublik wissen, ist durch hundertfach zusätzliche ehrenamtliche Arbeit zu Tage gefördert worden.
Erinnern heißt danken!
Allen Menschen, die sich auf verschiedenen Wegen und mit großer Energie eingesetzt haben, dass diese menschenverachtenden Gesetze fallen, dass diese Politik der Ausgrenzung und des Hasses zurückgedrängt wird, allen, die sich der queeren Community zugehörig fühlen und die sich ehrenamtlich für eine lebenswerte Gesellschaft für alle Menschen eingesetzt haben – ohne sie wären wir niemals da, wo wir heute sind: sichtbar! Jetzt können wir zeigen, was war, damit es nie wieder geschieht! Diese Arbeit braucht anerkennende Worten, sie braucht Preise, Ehrungen v.a aber hauptamtliche bezahlte Verstärkung!
Erinnern heißt aber auch „Nie wieder!“
Es ist mittlerweile Konsens, dass es in den letzten Jahren große Fortschritte gegeben hat in der rechtlichen Gleichstellung und gesellschaftlichen Akzeptanz queerer Menschen Und das ist sicherlich auch so.
Dennoch möchte ich sie bitten einen Moment den Fokus zu verschieben. Was wäre passiert, wenn heterosexuelle Personen erst ab 2017 – 70 Jahre nach dem Ende der Diktatur – hätten heiraten dürfen? Was, wenn jedes Elternpaar eines Kindes vor der Geburt Besuch vom Jugendamt bekommen hätte um zu prüfen, ob sie als Eltern in der Lage sind das Kind zu erziehen und der Partner zur Stiefkindadoption berechtigt wird? Was wäre in diesem Land losgewesen?
All dies haben schwule Männer, lesbische Frauen, trans* Personen mit Kinderwunsch erlebt. Das letzte, die Stiefkindadoption, erleben sie immer noch.
Warum fehlt die sexuelle und geschlechtliche Identität immer noch in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz? Es ist nach dreißig Jahren Diskussion nur beschämend, dass dies in der ablaufenden Legislatur wieder nicht beschlossen wurde.
Warum gibt es seit 2018 eine offizielle Gedenkstätte der Landeshauptstadt Mainz, die gegen ihre eigene Stiftungssatzung verstößt und alle Opfergruppen strukturell in Stiftungsrat und -vorstand ausschließt außer der jüdischen?
Warum gibt es 2021 eine Änderung des § 129 StGB, der Hassverbrechen und antisemitische Gewalt endlich strafrechtlich verfolgt, aber trans* und inter* Personen ausschließt?
Aber nicht nur die rechtliche Situation ist noch unzureichend. Wir erleben, wie ein gesellschaftlicher Konsens, der in jahrelanger mühsamer Arbeit maßgeblich durch die Zivilgesellschaft (Ostermärsche, Frauenbewegung, queere Bewegung, Anti-Atom Bewegung, Klimaschutzbewegung u.a.) erreicht wurde, dass die Bundesrepublik ein weltoffenes, tolerantes, Unterschiede akzeptierendes Land ist, dass dieser Konsens versucht wird zu verschieben.
Viele sind daran beteiligt, nicht nur die Vertreter der AfD, auch Teile der sogenannten Mitte, für die Professor Rödder aus Mainz u.a. in Kommentaren der Allgemeinen Zeitung sich herausnimmt zu sprechen. Und wir erleben viel Hass in den Asozialen Medien und wenig strafrechtliche Verfolgung eigentlich strafbarer Handlungen.
Dazu gehört auch die Berufung von Organisationen, die nachweislich seit Jahren gegen queere Menschen hetzen, in Kontrollgremien wie z.B. den Rundfunkrat des WDR. Betrieben von klerikal-konservativen Kreisen aus der Düsseldorfer Staatskanzlei. Viele weitere Beispiele kennt jede/jeder von uns.
Erinnern heißt Wachrufen der Vergangenheit für das Jetzt und die Zukunft!
Ich bitte sie um einen Moment der Stille und des Gedenken an das Leid der Verfolgten, an die Ermordeten, aber vor allem um einen Gedanken des Mutes und der Entschlusskraft, dass sich diese Zeit nicht wiederholt.
Mut und Entschlusskraft kann jede/jeder haben. Mut und Entschlusskraft, die im Kleinen jeden Tag gelebt werden können in der Zurückweisung von Ausgrenzung, egal um wen es geht, im Gespräch, in den sozialen Medien.
Mut und Entschlusskraft im Großen im Einsatz für umfassenden rechtlichen Schutz auf Landes- und Bundesebene und für eine Akzeptanz vermittelnde Haltung und Politik auf allen Ebenen.
Bitte: Sammeln Sie in diesem Moment der Stille diesen Mut, diese Entschlusskraft – lassen Sie uns die Opfer menschenverachtender Politik nicht vergessen!